Majolika-Hahn aus Borodyanka

Der Hahn, der zum Phönix wurde

Ein fast alltäglicher Keramikkrug in Form eines Hahns, zu finden in vielen Haushalten in der Ukraine, ist zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands geworden. Spätestens als Boris Johnson, der ehemalige Premierminister des Vereinigten Königreichs, im April 2022 bei einem Staatsbesuch einen solchen Keramikhahn als Gastgeschenk bekam, begann der Krug eine ganz andere Geschichte als die seiner Herstellung zu erzählen.


In der Majolika-Fabrik in Wassylkiw, südwestlich von Kiew, wurden diese Keramikkrüge in großer Zahl hergestellt. Jahrhundertelang galt die Stadt als Zentrum der Keramikherstellung, bis die Produktion 2019 aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt wurde.

Februar

Majolika-Hahn

Borodyanka auf der Europakarte

Datierung: 1950-60er Jahre
Material: Ton
Maße: 28x12,5x26,5 cm
Herstellungsort: Wassylkiw, Ukraine
Sammlung: Maidan-Museum, Kiew

Foto: National Museum of Revolution of Dignity (Maidan Museum).

Seine Berühmtheit verdankt der Hahn einem Foto, aufgenommen von der Fotojournalistin Yelvzaveta Servatynska. Das Foto zeigt einen unversehrten Küchenschrank, der den verheerenden Bomben- und Granatenbeschuss in Borodjanka, 55 km nordwestlich von Kiew, überraschenderweise überlebt hatte. Das Bild ging viral und wurde schnell zum Symbol des ukrainischen Widerstands. Doch nicht nur der Schrank war auf dem Foto zu sehen – aufmerksamen Betrachtern fiel eine Keramikfigur in Form eines Hahns auf, die offenbar intakt oben auf dem Schrank thronte. Verstaubt, aber nicht zerstört, symbolisiert sie die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Bevölkerung.

Zerstörte Küche in Borodyanka mit dem Hahn

Der Hahn ist in der ukrainischen Folklore ohnehin ein symbolträchtiges Tier: Er steht für Feuer und Kampfeslust. Sein Krähen vertreibt die bösen Geister der Nacht und kündigt die Wiedergeburt des Lichtes an. Das Foto diente als Vorlage für ein Poster, welches Hahn und Küchenschrank zeigt. In großen Lettern steht auf dem Plakat "тримаймося" – ein Wort, das man seit 2022 in der Ukraine immer öfter hört. Übersetzt ins Deutsche heißt es „Lasst uns durchhalten“.


Das Gebäude bzw. die Ruine, in dem der Küchenschrank stand, drohte einzustürzen. Aber aufgrund der großen Strahlkraft des Bildes und seiner Symbolik wollte man das Mobiliar samt Hahn vor der Zerstörung retten. Mit der Erlaubnis der Wohnungseigentümerin wurde der Schrank sorgfältig demontiert. Jedes Detail wurde erhalten – bis hin zu den Schrauben, mit denen der Schrank an der Wand befestigt war. Mit einer Drohne wurde auch die Umgebung, die Gebäuderuine und die Wand mit dem Schrank dokumentiert, um ein 3D-Modell zu erstellen. Mitarbeiter des Maidan-Museums sammelten weitere Objekte aus den Ruinen und befragten die Bewohner der benachbarten Häuser. Diese Art der Dokumentation war die erste systematische Musealisierung von Objekten, die mit der Geschichte des russischen Angriffs in Verbindung stehen.

Die Tragödie in Borodjanka begann mit der Schlacht um Kiew im Februar 2022. Diese Stadt, zusammen mit Irpin, Butscha und Hostomel, gehörte zu den Orten, die während des Konflikts besonders heftig umkämpft waren. Als die russischen Streitkräfte Anfang April das Gebiet verließen, wurden viele Todesopfer unter der Zivilbevölkerung entdeckt. Diese Funde lieferten erschreckende Beweise für Kriegsverbrechen, darunter zahlreiche Menschen, die hastig in Massengräbern beigesetzt worden waren. Die internationale Presse berichtete schockiert über das Massaker in Butscha. Kurz darauf kamen auch die entsetzlichen
Gräueltaten in Borodjanka ans Licht, die die Zivilbevölkerung nicht nur dort erlebt hat.

„Hier ist meine Wohnung, diese beiden Fenster.“ – zeigt Lyudmila Orzhekhovska auf die Ruinen eines ausgebrannten Wohnblocks in Borodjanka. „Auf dieser Seite gibt es keinen Eingang, keine Eingangstür, nichts ist mehr da. Und alles, was in meiner Wohnung war, alles... alles ist weg.“

„Von den Nachbarn sind fast alle gestorben, von denen, die ich kannte, sind fast alle gestorben. Ein Stück weiter, an der Hauptstraße, wohnte meine Tante. Sie wurde noch nicht einmal gefunden. Es werden einige DNA-Tests durchgeführt. Sie haben ein Stück menschliche Wirbelsäule gefunden und gesagt, es sollte zu einer älteren Person gehören. Also haben wir unsere DNA-Proben abgegeben. Aber wir wissen es noch nicht. Auch einige Kinderknochen wurden dort gefunden.“

„Ich glaube nicht, dass unsere Häuser wiederaufgebaut werden. Das wird viele Jahre dauern. Ich habe nicht mehr so viele Jahre vor mir, glaube ich.“

(Details aus einem Interview auf der Webseite des Museums of Civilian Voices)


Vielen Dank an das Maidan-Museum für die Bereitstellung des Foto- und Videomaterials.