Eine Bluse als Symbol für den Tourismus Bulgariens der 70er Jahre

Im Jahr 1970, als Bulgarien noch ein Geheimtipp für Reisende war, besuchte Albertine das Land zum ersten und einzigen Mal. Die Reise führte sie in die Rhodopen, wo sie und ihr zukünftiger Ehemann, ein Slawist mit Leidenschaft für slawische Länder, ein Skigebiet erkundeten. Die Organisation des Urlaubs von Deutschland aus war zu damaliger Zeit eine Herausforderung und die Hotelsuche konnte nur über die Bulgarische Vertretung in Berlin erfolgen. Diese Reise wurde zum Beginn einer tiefen Verbundenheit mit der bulgarischen Kultur.

Juli

Bestickte Bluse aus Bulgarien

Bestickte Bluse aus Bulgarien
Datierung: 1970 gekauft
Material: Seide
Erworben: Rhodope, Bulgarien
Sammlung: Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen

Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen / Christian Krug

In einem liebevoll gestalteten Souvenirladen erstand Albertine diese Bluse. Sie zeichnete sich durch exquisite Handarbeit, feine Stickereien und lebendige Muster aus, die aus der bulgarischen Volkskunst entstammten. Die Bluse war nicht nur für bulgarische Verhältnisse, sondern auch im Vergleich zu deutscher Kleidung, hochpreisig. Als Wertschätzung der hohen Qualität trug Albertine die Bluse nur zu besonderen Anlässen. Jedes Mal, wenn sie das Kleidungsstück trug, erinnerte sie sich an die Reise durch beeindruckende Landschaft und die Begegnung mit herzlichen Menschen. Nach über 50 Jahren in Albertines Besitz ging die Bluse nun in die Sammlung des Museums Europäischer Kulturen über. Sie war einst ein teures Souvenir und erzählt heute von der aufkeimenden bulgarischen Tourismusbranche der 1970er Jahre.

Bulgarische Stickerei

In dieser Zeit erlangte die Bulgarische Kommunistische Partei die Erkenntnis, dass der Tourismus ein Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft werden könnte. Mit großer Initiative trieb sie den Ausbau von Wintersportanlagen in den Bergen und die Erschließung von Touristenzentren entlang der Küstenstriche voran, was weltweit Aufmerksamkeit erregte. Maßnahmen wie kostenloser Gesundheitsschutz für Ausländer, Visaerleichterungen und die Wiedereröffnung von historischen Klöstern zogen Millionen Touristen an – darunter viele aus dem Westen, die wertvolle Devisen mitbrachten. Ein wichtiger Aspekt für westdeutsche Besucher war die Möglichkeit, sich in Bulgarien mit Freunden und Verwandten aus der DDR zu treffen – ein seltener Moment des Wiedersehens in einer geteilten Welt.

Trotz der wirtschaftlichen Erfolge brachte der Tourismusboom auch Herausforderungen mit sich, die von der Kommunistischen Partei Bulgariens nicht unbeachtet blieben. Es bestand die Befürchtung, dass westliche Besucher zugleich ihre Ideologien mitbrächten, was das politische Gleichgewicht des Landes stören könnte. Die luxuriös ausgestatteten Hotels und die hochpreisigen Souvenirläden stellten einen Kontrast zur Lebensrealität der bulgarischen Bevölkerung dar, was die sozialen Unterschiede innerhalb des Landes umso stärker hervorhob. Dies wurde besonders durch den vorherrschenden Zwei-Klassen-Tourismus
verdeutlicht: Während ausländische Gäste in erstklassigen Hotels logierten, waren für die bulgarischen Bürger lediglich einfachere Ferienlager vorgesehen.